Ursprüngliche Version der Szene: Luisa lernt Elias kennen

Dies ist ein Ausschnitt aus einer alten Fassung von Schattenblüte Teil zwei, der später dann „Die Wächter“ genannt wurde. Elias wird in dieser Fassung als Lottis Babysitter eingeführt und nicht als Mitarbeiter im Krankenhaus. Luisa hat in der Szene davor gerade von ihrer Mutter erfahren, dass ihr Vater nicht zu seiner Familie zurückkommt und ist entsprechend aufgewühlt. Erst läuft sie aus ihrer Wohnung, dann besinnt sie sich, dreht um und will mit Anja sprechen, der Mutter von Lilli und Lotti, die im selben Haus unter ihr wohnt.

Diese Szene hat dann letztendlich so doch nicht in das Buch gepasst, und so lernt Luisa im fertigen Buch „Die Wächter“ einen ganz anderen Elias in einer anderen Situation kennen.

Trotzdem viel Spaß mit dem ursprünglichen Elias im Kinderzimmer!     

 Luisa lernt Elias kennen  © Nora Melling

Rasch drehe ich mich um und laufe die Treppe wieder hinauf,  meine Schritte hallen auf den Stufen und die eisig weißen Wände im Hausflur spielen sich das Klappern meiner Schuhsohlen zu. Dann endlich stehe ich atemlos vor Anjas weißer Tür. Ich drücke die Klingel und warte direkt vor dem Türkranz aus getrockneten Blättern, Goldflitter und Gewürzen, dass den Türspion umrankt. Trotzdem nehme ich den Duft von Zimt, Nelken und Orangeschalen kaum wahr. Ich warte, reibe mir die Tränen von den Wangen, schnäuze mir die Nase und klingele noch einmal. Als ich hinter der Tür Stimmen höre, helles Lilli-Lachen und doch keine Schritte in meine Richtung, als ich weiß, dass sie da sind und niemand mich einlassen will, hämmere ich mit der Faust gegen die Tür. Ich hole gerade zu einem weiteren Schlag aus, als die Tür aufschwingt und jemand direkt vor mir im Türrahmen steht. Jemand der nicht Anja ist.

Ich blicke genau in die blauen Augen eines Mannes, den ich noch nie gesehen habe. Was tut er hier? Wieso hat er Lilli auf dem Arm? Er ist viel zu jung, um Anjas Freund oder der Vater eines Spielkameraden von Lotti zu sein. Mein Weinen sitzt mir noch in der Kehle, ich schlucke und muss mich räuspern, damit meine Stimme nicht bricht. Kein Fremder soll wissen, dass ich gerade geheult habe. Und gerade er nicht, dessen Blick so intensiv ist, dass er mich wie ein Röntgenstrahl zu durchleuchten scheint. „Hallo. Ich wollte zu Anja…“, beginne ich, „ist sie – ?“

Bevor er antworten kann, kommt Lotti angesaust und flitzt ohne langsamer zu werden an seinen Jeansbeinen vorbei. „Luisa!“, quiekt sie. Ich kann sie gerade noch auffangen, ehe sie ins Treppenhaus hinaus schießt.

„Elias, guck mal, das ist unsere Nachbarin Luisa, die über uns wohnt!“ erklärt Lotti, als ich sie wieder auf die Beine stelle.

„Hallo Luisa!“ Der junge Mann schiebt Lilli auf seine linke Hüfte, so dass er eine Hand frei hat, die er mir hinstreckt. „Ich bin Elias. Willst du reinkommen und auf Anja warten? Sie müsste schon auf dem Weg hierher sein.“

Lilli lacht fröhlich und wedelt mit ihren Ärmchen.

Er merkt wohl, wie ich verständnislos die Augenbrauen zusammen ziehe. „Na, ich bin der Babysitter“, sagt er. „Sieht man das nicht?“

Ich übertrete die Schwelle, greife endlich seine Hand, die er mir immer noch hinhält. Sie ist kräftig und warm. Die Wohnung ist warm. Ich merke, wie sich meine vor Kälte verkrampften Muskeln entspannen.

„Du bist wohl eine von den ganz Harten, wie?“, fragt er, als er die Wohnungstür hinter mir zudrückt.

„Wieso?“ Hat er an meinen ohne Zweifel roten Augen gesehen, dass ich geweint habe und will mich auf den Arm nehmen?

Er geht voraus und drückt die Tür zum Kinderzimmer auf. „Du hast keine Jacke mit.“

Bloß die Sache mit der Jacke. „Ich wohne doch hier im Haus.“

„Es ist aber auch im Treppenhaus verdammt kalt.“

„Oh, ja“, seufze ich und versuche, nicht auf die Schar Plastik-Gänse zu treten, die auf dem Teppichboden weiden.

„Wir spielen gerade Bauernhof“, erzählt Lotti und umrundet einen Mähdrescher. „Spielst Du mit?“

„Ja klar“, sage ich und setze mich mit gekreuzten Beinen neben einen grünen Trecker. Ich koppele einen Anhänger an und beginne kleine quaderförmige Dinger, die wohl Heuballen sein sollen, aufzuladen.

Lilli krabbelt, jetzt, wo Elias sie abgesetzt hat, um uns herum und schiebt eine Kuh vor sich her.

Lotti setzt eine Puppe auf ein Pferd und spielt reiten. „Du musst die Heuballen liegen lassen, Luisa!“ fordert sie. „Mein Pferd soll doch darüber springen!“

„Na gut, dann lade ich eben die Gänse auf. Vielleicht wollen die eine Spazierfahrt machen.“ Elias sieht uns zu, sitzt mit viel zu langen Beinen an Lottis kleinem Schreibtisch und faltete Hüte aus Zeitungspapier. Erst bekommt Lilli einen, dann Lotti, und dann bekomme auch ich einen aufgesetzt. Gerade, als wir Elias überzeugen wollen, einen weiteren Hut für sich zu falten, kommt Anja zurück. Noch im Mantel, eine kastige, schwarze Tasche am Schulterträger, lehnt sie in der Tür zum Kinderzimmer. Hebt Lilli auf den Arm, streicht mit der freien Hand Lotti, die sich an sie schmiegt, um die Schultern.

„Luisa, wie schön, dass du Lotti besuchst“, sagt Anja.

„Sie wollte zu dir, Mama“, sagt Lotti.

Ich stehe auf und stakse über Trecker und Kühe hinweg auf Anja zu. Erkläre ihr, dass ich unbedingt mit ihr reden musste. Ich muss nicht um Hilfe bitten. Anja sieht mit einem Blick in mein Gesicht, dass es mir wichtig ist. Elias, der einen weiteren Hut fertig gefaltet hat, den er sich von Lotti über die blonden Haare stülpen lässt, bietet sich an, ein bisschen länger zu bleiben. Anja dankt ihm lächelnd,  und nimmt mich mit ins Wohnzimmer.

„Ich bin doch Fotografin“, erzählt sie mir, als ich ihr die  Tasche abnehme, damit sie sich aus ihrem Mantel schälen kann. „Eigentlich wollte ich schon wieder arbeiten, seit ich Lilli nicht mehr stille. Jetzt hatte ich die Chance auf einem Neujahrsempfang zu fotografieren, weil Christine, eine Bekannte von mir, die den Auftrag bekommen hatte, auf einmal noch woanders arbeiten sollte.“ Anja hebt die Tasche auf den Wohnzimmertisch. „Da habe ich einfach ihren Job übernommen. Ein Glück, dass Elias heute aufpassen konnte, es war so toll, endlich wieder zu fotografieren.“

Ich habe mich auf ihren Sessel gesetzt und ziehe die Beine im Schneidersitz zu mir. „Woher kennst Du eigentlich Elias?“

Anja öffnet ihre Fototasche, nimmt die Objektive heraus und reinigt die Linsen mit einem speziellen Tuch. „Naja, das war ganz komisch“, erzählt sie, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. „Bei der Besprechung zu diesem Auftrag, ich saß gerade hier mit Christine zusammen, klingelte es an der Tür. Elias stand draußen und sagte, er sei gekommen, um auf die Kinder aufzupassen. Du kannst dir vorstellen, wie ich geguckt habe, als da so ein wildfremder junger Mann vor der Tür steht! Es stellte sich heraus, dass er ganz woanders hin wollte, wohin genau wusste er auch nicht, denn er hatte sich Namen und Adresse nicht aufgeschrieben, nur die Telefonnummer. Er hat dann bei den Leuten, bei denen er eigentlich aushelfen sollte, angerufen, um zu sagen, dass er sich verspäten würde, aber die hatten inzwischen ihre Pläne geändert und brauchten ihn nicht mehr. So ist er einfach hier geblieben, hat mit Lotti und Lilli gespielt, und Christine und ich konnten alles in Ruhe besprechen.“

„Dann kennst Du ihn doch eigentlich gar nicht! Wieso hast du ihn heute einfach so mit den Kleinen allein gelassen?“

„Seit wann hältst du mich für so leichtsinnig, Luisa?“ Die Objektive gereinigt und verstaut, schließt sie die Fototasche wieder. Dann setzt sie sich, nachdem sie Lottis rotkariertes Stoffnilpferd bei Seite geschoben hat, auf das Sofa. „Ich habe mir ganz genau angesehen, wie er mit meinen Mäusen klar gekommen ist, ehe er wiederkommen durfte! Ich habe seine Adresse und ich habe mir seinen Personalausweis angesehen. Ich habe seine Telefonnummer und mit seiner Mutter, naja, Stiefmutter, gesprochen. Er hat noch einen Bruder und einen sehr netten Vater. Den hatte ich nämlich auch kurz am Apparat. Und nebenbei: Guck ihn dir doch mit Lotti an. Reicht dir das nicht?“

„Sorry, ich muss bei Babysitter immer an Mädchen denken.“

„Ist doch gut, wenn sich mal ein männliches Wesen um meine Mädchen kümmert. Ihre Väter tun das viel zu selten.“

Meine Nase wird rot. Ich wollte nicht schon wieder von mir anfangen. Aber Anja ist nicht blind, sie sieht natürlich, wenn plötzlich meine Augen brennen und meine Nase rot wird wie die von Rudolf dem Rentier. „Dein Vater?“

Ich nicke, schlucke und bemühe mich, ruhig zu atmen und vernünftig und sachlich zu sprechen. Ich erzähle Anja von der Sache mit meinem Vater. Vom Streit mit meiner Mutter, schon wieder! Dass mein Vater einfach nicht mehr zurück kommen will. Dass meine Mutter mich belogen hat und meine Briefe zurück hält und dass mein Vater eine neue Wohnung hat, und will, dass ich zu ihm ziehe. Wohl, damit er besser an mir rummeckern kann.

„Und du möchtest nicht zu deinem Vater und seiner neuen Freundin ziehen? Hat sie nicht auch ein Kind? Dann hättest du vielleicht wieder eine Familie.“

„Wie bitte? Was ist das für eine Frau?“

„Oh verflixt.“ Anja nimmt das Kuschelnilpferd auf ihren Schoß und zupft ihm an den Ohren. „Deine Mutter war doch hier und wir haben ziemlich viel geredet letzte Nacht. Sie hat mir erzählt, warum dein Vater sie nicht mehr wie geplant zu Silvester treffen wollte. Er hat sich in diese Frau verliebt, eine Arbeitskollegin ist sie wohl, – Luisa, ich dachte, deine Mutter hätte dir davon erzählt!“

„Nein, hat sie nicht. Stattdessen verteidigt sie den Typ, der sie betrügt, auch noch!“

„Vielleicht versucht sie nur, deinen Vater zu verstehen! Denk doch mal dran, wie es in eurer Familie war: Da war keiner, der deinem Vater in seinem Kummer Kraft geben konnte, weil jeder mit sich selbst genug zu tun hatte. Keiner hat ihn abgelenkt, denn ihr alle wart in eurer Trauer fast erstickt.“

„Anja! Mein Bruder ist gestorben! Natürlich waren wir alle fertig, aber darum läuft man doch nicht einfach weg und tut als wäre nichts passiert! Mein Vater hat ja auch gar keinen Kummer. Sonst würde er sich nicht so benehmen, als hätte er bloß meine Mutter, mich und Fabi für eine weniger anstrengende Familie verlassen. Hat er aber nicht! Er hat, als er dringend gebraucht wurde, seine verwundete, amputierte Familie im Stich gelassen! Fabi ist gestorben! Er kann Fabi doch nicht einfach vergessen und durch ein fremdes, neues Kind ersetzten! Fabi war sein Sohn und er ist tot, bleibt tot und nichts wird mehr sein wie es war!“

„Vielleicht hat dein Vater genau das einfach nicht mehr ausgehalten?“

„Verdammt, ich muss es doch auch aushalten“, sage ich.

„Vielleicht ist er nicht so stark?“

Moment mal: „Da will einer einem, so lange man denken kann, sagen, wie man zu leben hat, und im entscheidenden Moment, wenn man ihn mal wirklich bräuchte, ist er einfach nicht stark genug? Er darf also einfach abhauen und nicht mehr an Fabi denken und meine Mutter allein lassen und sich von einer fremden Frau trösten lassen und ich darf nicht mal die Schule schwänzen, weil ich stärker bin?“ Das Leben ist so scheiße ungerecht, manchmal!

Ich schlage mit der Hand auf den Tisch und erwische dabei den Rand der Schale mit den Haselnüssen. „Tut mir leid!“, sage ich, als die Hälfte der Nüsse über den Tisch rollt. Anja hilft mir, sie wieder einzusammeln, auch wenn hauptsächlich ich es bin, die auf dem Boden herumkriecht.

Schließlich, als die letzten Nüsse wieder in der Schale sind, bleibe ich einfach am Boden, setze mich im Schneidersitz auf den Wohnzimmerteppich. „Kannst du mir auch erklären, warum meine Mutter mich anlügt? Warum sie mir von all dem nichts erzählt und meine Briefe unterschlägt?“

„Verstehst du das nicht?“

„Nein, tue ich nicht! Sonst würde ich ja nicht fragen!“

„Ich weiß es natürlich auch nicht, ob ich Recht habe, aber ich kann mir vorstellen, dass sie sich einfach wünscht, jemand würde sie vor dem ganzen komplizierten Alltag, der Trauer um Fabi, der zerbrechenden Ehe, all dem, beschützen. Sie hätte gerne, jemand würde das alles von ihr fern halten, wenigstens für eine Weile, damit sie wieder zu Atem kommen, wieder auf die Füße kommen kann, bevor es weiter geht. Und jetzt tut sie das, was niemand für sie tut, eben für dich.“

„Ich bin aber nicht so! Ich will nicht, dass man etwas von mir fernhält, ich will wissen, was auf mich zukommt, damit ich mich darauf einstellen kann! Damit ich weiß, wogegen ich kämpfen muss! Das muss sie doch wissen!“

Anja zögert einen Moment. „Ja, sollte sie eigentlich.“

„Stattdessen hält sie mich blind und belügt mich!“

„Verzeih ihr. Es ist ihre Art, weiter zu leben. Vielleicht die einzige, die sie kennt.“

Ja und sich selbst hält sie blind und taub mit Kopfhörermusik und Spannungsbüchern. „Ich brauche Zeit. Ich kann sie heute einfach nicht sehen.“

Anja nickt wieder. „Willst Du hier bleiben? Du kannst hier auf dem Sofa schlafen.“

„Nein, danke, lieb von dir. Aber hier im Haus kann ich nicht bleiben. Was meinst du, wie lange es dauert, bis meine Mutter hier runter kommt und dir, ihrer Freundin aus der Silvesternacht, von ihrer anstrengenden Tochter erzählen will? Willst du sie dann mit Gewalt davon abhalten, dass sie mich mit nach oben nimmt oder soll ich mich so lange bei Lotti unter dem Bett verstecken?“

„Daran habe ich nicht gedacht. Wo willst du also hin?“

„Ich fahre zu meinem Freund.“

 

 

„Dann geh zu deinem Lars. Nimm erstmal Abstand. Lass deine Wut, deine Empörung und Verletzung abkühlen, und dann komm zurück“, sagt sie.

Tja, das mit dem Zurückkommen ist so eine Sache. Da sind ein paar Werwölfe, um die Thursen und ich uns kümmern müssen.

Zu meinem Glück sieht Anja in diesem Moment nicht in mein Gesicht, sondern auf ihre Uhr. „Meine Güte, Elias hätte schon längst gehen wollen! Ich muss mich mal schnell um ihn kümmern, er macht das Babysitten umsonst, Geld kann ich ihm nämlich keins bezahlen!“

Anja verschwindet im Kinderzimmer, ich höre von da gedämpft ihre Stimme. Elias Stimme antwortet, auch ihn kann ich nicht verstehen. Lotti quietscht auf. Ich gehe ihnen nach, aus der geöffneten Zimmertür mit dem Marienkäfer dran dringt Lottis helles Kinderlachen. Elias kitzelt sie gerade. Sie lässt sich auf den Boden fallen und windet sich zwischen den Bauernhoftieren wie ein kleines Insekt. „Tschüss Anja, danke dass du Zeit für mich hattest!“, sage ich. „Tschüss Lotti, Tschüss-„

„Geh noch nicht!“ ruft Lotti atemlos vor lauter Lachen. Also komme ich doch ins Zimmer, streichele Lilli, während Lotti sich, immer noch am Boden liegend, an meinem Bein festklammert.

„Willst du so raus gehen? Ohne Jacke?“, fragt Anja, während ich versuche, Lottis Klammerhände von meinem Bein loszupulen.

„Ich bin ja gleich an der Bushaltestelle und im Bus ist geheizt. In Tegel muss ich auch nicht weit laufen. Und wenn ich dann eine Jacke brauche, kann mein Freund mir ja eine leihen.“

„Nimm wenigstens noch einen Pulli, sonst erfrierst du noch, wenn du auf den Bus warten musst“, sagt Anja, steigt mit einem großen Schritt über Lotti hinweg und verschwindet aus dem Zimmer.

„Du musst nicht in der Kälte auf den Bus warten. Ich kann dich mitnehmen, wenn du magst“, sagt Elias, der, Lilli auf dem Arm, plötzlich ganz nah vor mir steht. „Ich bin mit dem Auto da und Tegel ist kaum ein Umweg für mich.“

Ich zögere, sein Angebot anzunehmen. Mein Blick kann sich nicht von seinem Gesicht lösen, wie ein Magnet, der über eine eiserne Tafel fährt. Irgendetwas lässt mich jedes Detail an ihm zur Kenntnis nehmen. Seine blonden Haare sind fingerlang geschnitten. Die gerade Nase über dem blassrosa Mund, die Unterlippe ein wenig voller als die Obere. Darunter, sorgfältig rasiert, das eckige Kinn mit der Kerbe darin. Seine Augen sind strahlend blau, wirklich strahlend, fast als würde ein Licht aus ihnen leuchten.

Fragend zieht er die Augenbrauen hoch.

Ich halte seinem Blick stand. Ich setze mich nicht einfach zu irgendwem ins Auto. Normalerweise.

Durchschaut er, dass meine Stärke gerade nur Fassade ist? „Es ist wirklich ziemlich kalt da draußen!“, sagt er und zieht seinen Mund in ein halbes, ein bisschen spöttischen Lächeln.

„Na gut“, gebe ich nach. „Wenn du sowieso in diese Richtung fährst – und“, setze ich hinzu, „nicht im Auto rauchst.“

„Bestimmt nicht.“ Er schüttelt den Kopf. „Darf ich Bonbons lutschen? Nur wenn ich dir auch welche anbiete, selbstverständlich.“

Da kommt Anja mit einem flauschigen Ringelpulli zurück, den ich mir über den Kopf ziehe. Anja nimmt Elias Lilli ab, die prompt eine Flunsch zieht. Ich drücke Anja und ihre Kinder zum Abschied, Elias schwenkt Lotti, die sich nicht trennen kann, im Wohnungsflur herum, vorsichtig, damit ihre Füße nicht an die Wände stoßen, dann sind wir schon draußen im Hausflur. Es ist so still plötzlich, wo Lottis Lachen in Anjas Wohnung zurückgeblieben ist. Unsere Schritte hallen durchs Treppenhaus, als wir gemeinsam die Stufen hinunter steigen. Wegen der Kälte hat offenbar schon lange niemand mehr gelüftet. Meinem Magen gefällt das gar nicht. Dann sind wir endlich draußen.

„Wo hast du geparkt?“, frage ich Elias, als er die Haustür, die er eben für mich geöffnet hatte, hinter uns ins Schloss drückt. Vorsichtig. Einer wie Elias lässt so eine Tür offenbar nicht einfach achtlos zuknallen, wie ich es täte. Die Kälte springt mich an, bohrt ihre Krallen durch die Pullovermaschen, bleibt bei mir und umfängt mich sofort wieder wie ein leises Summen. Ich ziehe die Schultern hoch, als müsste ich mich gegen einen neuen, schlimmeren, Kälteangriff wappnen.

Elias streckt den Arm aus, die andere Hand in der Tasche seiner sandfarbenen Steppjacke. „Mein Auto steht da entlang, in der Nebenstraße“, kommen die Worte als weiße Wölkchen aus seinem Mund. Die ganze Straße ist gesäumt von bunten Autos, nebeneinander aufgereiht wie Schuhe in einem Regal.

„Hier vor dem Haus war kein Parkplatz frei. Am besten du wartest einfach im Hausflur.“ Sein Blick wandert zur schweren Eingangstür. „Soll ich hupen, wenn ich da bin?“

Einen Augenblick zögert er, dann schlüpft er aus seiner Jacke und legt sie mir um. „Hier“, sagt er. „Dann kannst du hier draußen auf mich warten. Wenn man rumsteht, friert man noch mehr.“ Er schüttelt klimpernd sein Schlüsselbund, um den Autoschlüssel in die Hand zu bekommen und wendet sich zum gehen. Mir ist zu kalt zum protestieren. Ich schiebe meine Arme in die Jackenärmel.

Eliass Jacke, sie ist so groß, dass sie bequem auch über Anjas Pullover passt, riecht nach ihm. Der selbe feinherbe, etwas grüne, blumige Geruch, der mir bei der Begrüßung aufgefallen war. Ich rieche es für einen Moment, als ich meine Nase in den Kragen drücke, um den Reißverschluss einzuhaken, den ich schließe bis zum Kinn.

Dann sehe ich Elias nach, der sich, nur im dünnen hellbraune Pullover, rechts von mir mit schnellen Schritten entfernt und dabei die Arme schwingt, als könnte ihm die Kälte nichts anhaben. Die gleiche Kälte, die in meine Finger beißt und in meiner Nase brennt wie in der Nacht im Wald, als Thursen und ich den Toten gefunden haben. Ein Schauder läuft über meinen Rücken. Ich lasse die Jackenärmel über meine Hände rutschen, versinke noch tiefer in der Jacke und schließe für einen Moment die Augen.

Als ich sie wieder öffne, ist Elias längst verschwunden, ich weiß nicht wo er hin ist. Die Nebenstraße ist viel zu weit weg, dass er sie inzwischen erreicht haben könnte, aber auf meiner Straße kann er in keinen der Wagen gestiegen sein. Kein Auto startet, nirgends gehen Rückfahrscheinwerfer an.

Da kommt ein blauer Golf aus dieser Nebenstraße, blinkt und biegt hinter einem silbernen Mercedes in unsere Straße ein. Der Mercedes fährt an mir vorbei, aber der Golf belegt direkt vor unserem Haus die Lücke am Bordsteinrand. Gerade, als ich mich ärgere, dass das Auto Elias den Halteplatz wegnimmt, erkenne ich, dass es Elias ist, der aussteigt. Er lächelt mir zu, geht mit mir um den Wagen und öffnet mir die Beifahrertür.

„So schnell?“, wundere ich mich. Wie ist er so schnell zur Nebenstraße gekommen?

„Ich bin gerannt“. Er grinst. „Da merkt man die Kälte nicht so.“ Ich öffne tapfer den Reißverschluss der Jacke, seiner Jacke, will sie gerade ausziehen, doch er bemerkt wohl, wie ich schon wieder schaudere, als die Kälte mich erreicht. „Nein, behalt die Jacke lieber!“, sagt er. Tippt mir lächelnd auf die Schulter, bevor er die Motorhaube umrundet. Ich rutsche auf meinen Sitz und beobachte aufmerksam, wie er einsteigt und die Fahrertür zuschlägt, als ich mich anschnalle. Er ist also gerannt, während ich nicht hinsah. Ist er das wirklich oder sollte das ein Witz sein? Er atmet ganz ruhig und ist kein bisschen aus der Puste! Aber wie ist er dann so schnell gewesen?