Leseprobe Deal mit Dorian

Deal mit Dorian-2klein„Wie viel?“ hörte ich seine Stimme. Dorians Stimme. Ich stand an der Wand im Schatten des Schulgebäudes, und trank Wasser, das ich mir frisch aus dem Wasserhahn in meine Flasche gefüllt hatte. Mit geschlossenen Augen genoss ich die Kühle. Es war dieser Sommer, in dem die Hitze wochenlang zäh wie Sirup über der Stadt klebte. Sie brachte den Asphalt zum Glühen, drang in die steinernen Wände unseres Schulgebäudes ein und nistete dort. Man konnte nicht anders, als sie auf der Haut zu spüren, sie mit jedem Atemzug einzuatmen, sie war überall.

Die Hofpause hatte uns alle ins Freie getrieben, raus aus den Klassenräumen, den Gängen, in denen die Hitze noch unerträglicher war. Dorians Stimme tanzte über das Gemurmel, Getuschel, Gelächter der anderen Schüler und Schülerinnen hinweg und verlangte Aufmerksamkeit. „Hey du, Cara, dich meine ich!“, rief er zu mir hinüber. Zu mir? Was war das denn? Natürlich kannte ich Dorian, jeder hier kannte Dorian. Doch wir lebten in unterschiedlichen Welten und an normalen Tagen kam er genauso wenig auf die Idee, mit mir zu sprechen wie ich mit ihm. Was war heute anders? Mein Blick hatte ihn längst gefunden, auch wenn er nicht rothaarig war, so wie ich. Da stand er, Dorian, auf dem kleinen, von tausend Schülertritten kahlen Hügel, der den alten Baum umgab, und hatte sich lässig mit der Schulter an den Stamm gelehnt. Wie schaffte er es als Einziger, nicht total fertig von der Hitze auszusehen? Mir hatte mein Schluck Wasser nicht geholfen. Die süße Sharon mit den blonden Locken und den Schmollmundlippen stand neben ihm. Nein, sie stand nicht, sie hatte sich an ihn geschmiegt, als sei sie eine Rankpflanze, die sich an ihm emporwinden wollte.

„Du bist doch Cara, oder?“ Sein Kopf wippte ein winziges bisschen in den Nacken, wie um die Worte zu mir hinüberzuwerfen. Die Haarsträhne, die er sich dabei normalerweise aus der Stirn geschüttelt hätte, fehlte, seit er aus dem Krankenhaus zurück war. Er sah so fremd aus, als hätten sie einen unbekannten Bruder von ihm zurückgeschickt. Um Dorian herum standen seine Leute. Es war leicht zu erkennen, wer dazu gehörte. Seit er wieder in der Schule war, trugen sie die gleichen Hosen, die gleichen bis zum Ellenbogen aufgekrempelten Hemden und sogar fast den gleichen Haarschnitt wie er. Dorian in Blond, in Braun, in schwarzhaarig standen da, wie Variationen von Barbies Ken. Seine mehr oder weniger gelungenen Klone lachten über den Witz, von dem ich offenbar nichts mitbekommen hatte.

Sie starrten mich an. Alle. Ihre Blicke juckten auf meiner Haut. Und nur weil Dorian aus der Menge der Schülerinnen eben gerade mich angesprochen hatte. Warum mich? Welches Spiel trieb er jetzt wieder? Ich schraubte die Wasserflasche zu. „Wie viel was?“, rief ich zurück. Genauso laut wie er. Nicht einschüchtern lassen. Wer eingeschüchtert ist, den zerreißen die Hunde.
„Wie viel willst du für ein Wochenende mit mir?“, fragte er über die Köpfe der anderen hinweg. Kunststück mit seinen einsfünfundachtzig.

Ja, natürlich. „Vergiss es, Dorian. So viel Geld hast selbst du nicht.“ Ein paar kleine Lacher gab es, dünn und mager, die die Menge verschluckte.

„Wow, ist die zickig drauf, Dorian.“ Die Dorian-Kopie in Schwarz klopfte dem Original auf die Schulter. „Meinst du, das ist eine gute Idee?“

Dorian beachtete ihn gar nicht, ebenso wenig, wie Sharon, die ihren Schmollmund zu einem verheißungsvollen Lächeln formte und Dorian etwas ins Ohr flüsterte. Er schüttelte den Kopf und pflückte sie von sich ab. Sharon nahm widerwillig ihre Arme von ihm und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, als er wieder zu mir hinüberrief. „Hundert Euro?“

Er bot mir tatsächlich Geld an? „Soll ich dir aufmalen, wie du den Straßenstrich findest?“, nahm ich den schmutzigen Witz vorweg, der jetzt unweigerlich kommen musste.

„Hast du da Erfahrung?“, gab er zurück. „Man munkelt ja, dass du dir jeden Cent von deinem Geld selbst verdienst, aber dass du es auf diese Weise machst, schockiert mich doch.“

Gut gekontert, das musste ich ihm lassen. Aber langsam zog sich der Witz in die Länge wie altes Kaugummi. Er war reich, ich war es nicht. Er feierte Parties und warf mit Geld um sich. Ich ging jobben. Wir würden kein Wochenende zusammen verbringen. Was ich machen würde, wusste ich ziemlich genau: Ich würde im Zoo stehen und Eis an kleine eifrige, vom Spielen zerzauste Kinder verkaufen. Wahrscheinlich bei den Zebras. Und was er machen würde, war mir auch egal, wahrscheinlich würde er entspannt an seinem Pool liegen. „Lass mich in Ruhe, Dorian. Warum fragst du nicht Sharon, wenn du gewisse Probleme hast. Für hundert Euro würde ich nicht mal mit dir Kaffetrinken gehen.“ Das wollte etwas heißen, ich liebte Kaffee. Aber das wusste er natürlich nicht.

Sharon ließ ihre schmalen Finger mit den roten Gelnägeln über seinen Arm Richtung Schulter wandern. Doch sein Blick war immer noch auf mich gerichtet. „Zweihundertfünfzig“, rief er mir zu. „Du begleitest mich auf eine Party. Du wirst mit mir tanzen, mit mir essen, mich nett anlächeln. Und wir werden Kaffee trinken, wenn ich Lust dazu habe.“ Was war los mit ihm? Wieso redete er auf einmal mehr als zwei Sätze mit mir und dann noch außerhalb der Schulkonferenzsitzung, so als hätte er das schon immer getan? Machte ihm die Hitze zu schaffen?

Ich ging weg von der Hauswand, ein paar Schritte auf ihn zu und heraus aus dem Schatten, damit er mich gut sehen konnte. „Kennst du dieses magische Zauberwort?“, fragte ich. „Es heißt: Nein.“

Vermutlich hatte er das in seinem Leben ein wenig zu selten zu hören bekommen.

Er holte sein Portemonnaie raus und entnahm ihm, ganz langsam und einen nach dem anderen, einen Packen braune Scheine, fächerte die Scheine auf und winkte damit. „Okay, ich erhöhe mein Gebot. Fünfhundert.“ Die Lacher waren auf seiner Seite.

Mittlerweile lauschte der ganze Schulhof gebannt. Wir waren umringt. Fehlte nur noch, dass einer von den pickeligen Mittelstufenschülern sein Handy rausholte und filmte, so wie sie das letzte Woche bei dieser Schlägerei gemacht hatten. Die Sonne brannte mir ins Gesicht, heiß, als stünde ich zu nah an einem Feuer. Die Haare klebten an meiner schweißnassen Stirn. Dorian würde nicht weggehen, nicht dort von seinem Schattenplatz, von dem aus er den Schulhof wie von einem Feldherrnhügel aus überblicken konnte. Also würde ich es tun.

„Hör auf, Dorian. Es reicht!“ Ich drehte mich um. Auf dem Weg zur Tür, den ich mir mühsam bahnen musste, weil ein Pulk Zehntklässler entgegen kam, hörte ich die Stimmen hinter mir.

„Jeder Mensch hat seinen Preis!“, rief Dorian mir nach. „Siebenhundertfünfzig, komm schon, Cara!“

„Geh doch mit uns zur Party, Dorian!“, rief eine Mädchenstimme hinter mir. „Wir sind eh viel hübscher als die. Und wir gehen ganz umsonst mit.“

„Ey, ihr seid so billig!“, rief eine der Zehntklässlerinnen. Ich schob die sonnenverbrannte Blonde zur Seite, die zwischen mir und der Tür stand. „Das klappt bei der so nicht, Dorian“, rief wohl einer von seinen Kumpels. „Da musst du schon mehr bieten.“

Ich drehte mich nicht um. Siebenhundertfünfzig Euro! Die waren doch irre! Ich zögerte und stemmte dann doch die Tür auf. Der Mechanismus, der die Tür hinter mir schließen sollte, wehrte sich und verlangte meine ganze Kraft. Niemand half mir. Und in dem Moment war mir ganz genau klar, worum es hier eigentlich ging. Nicht das, wonach es aussah. Kein spaßiges Rededuell zwischen Dorian und mir, in dem keiner von uns nachgeben wollte, weil wir beide Dickköpfe waren. Dorians Freunde wussten, dass Dorian gewinnen würde. Sie wussten, dass ich weglaufen würde, damit ich nicht doch ja sagen und mich dann selbst verachten würde. Dorian und seine Freunde zeigten mir gerade, wie leicht es für sie war, mich in Versuchung zu führen mit Geld, das ihnen nichts bedeutete. Und wie schwer es für mich war abzulehnen, weil ich immer welches brauchte. Ich war berechenbar für sie. Sie hatten die Macht und ich floh, weil ich ihnen nichts entgegensetzen konnte. Ich blieb stehen. Was jetzt?

Da hörte ich Dorians Stimme noch mal. Natürlich, er musste immer das letzte Wort haben. „Ich zahl dir Tausend!“

Dass ich ablehnen würde, war für ihn selbstverständlich und fast nebensächlich. Er hatte allen auf dem Hof gezeigt, dass er reich genug wäre, tausend Euro für einen Witz auszugeben.

Doch was würde er tun, wenn ich annahm? Dann musste er sein Angebot vor allen hier zurückziehen. Ich ließ die Tür los, die krachend in Rahmen zurückschlug und drehte mich langsam um. Es wurde still um uns. Das Tack-Tack, das von den Tischtennisplatten herüberkam, schien lauter als alles andere. Dorians Freunde tuschelten und warfen mir Blicke zu. Und obwohl ich wusste, dass der Schulhof immer noch voller Leute war, genauso wie eben, schienen sie mit einem Mal unwichtig, wie ausgeschnittene Kulissen aus Papier. Na gut, wenn er es so wollte. Das konnte er haben. Ich fixierte Dorian, wie er neben dem Baumstamm stand, die Schulter noch immer dagegen gelehnt, in der Hand die Scheine. Er trug seine Designerklamotten, helle Hose, aufgekrempeltes Hemd, Lederschuhe, Sonnenbrille. Schon ohne die teure Uhr an seine Arm hatte alles zusammen mindestens dreimal so viel gekostet wie das Geld, das er in der Hand hielt. Die stehende Luft bewegte die Blätter des Baumes nicht, die Scheine nicht und schon gar nicht seine kurzen blonden Haare, kurz fast wie ein Fell, die im Frühjahr noch eine Handbreit lang gewesen waren. Ich sah ihm genau ins Gesicht, als ich Schritt für Schritt auf ihn zu ging.

„Tausend Euro?“, fragte ich.

Er schob die Sonnenbrille hoch und ließ mich seine Augen sehen, die blauen Augen, so dunkelblau, dass sie fast violett wirkten. Sie wurden schmal, als auch er mich ansah, nein, mit Blicken maß, seinen Mund zu einem spöttischen Lächeln verzogen. „Tausend Euro. Die fünfhundert hier kriegst du jetzt, die anderen fünfhundert, wenn du durchhältst.“

„Ein Wochenende? Ich muss nur die Zeit mit dir verbringen? Du lässt deine Finger von mir?“

„Oh bitte!“, er lachte gequält auf. „Ich kann mich beherrschen.“

„Okay.“ Ich nickte, griff zu, zog ihm die Scheine aus der Hand und ging.
Gewonnen. Er wollte den anderen vorführen, wie mächtig er war mit seinem Geld und nun hatte ich ihn mit seinen eigenen Waffen geschlagen. Seine Freunde lachten und johlten hinter mir. Und ich grinste in mich hinein. Konnte nicht anders als in mich hinein lachen. Er hatte sich soeben öffentlich verpflichtet, tausend Euro zu zahlen für etwas, was er ganz bestimmt nicht wollte. Tausend Euro. Wie ihn das fuchsen musste! Er wollte mich cool auflaufen lassen, und jetzt hatte ich seine fünfhundert Euro in der Tasche. Ich kostete den Moment aus. Denn gleich, das wusste ich, sagte er mir, dass alles nur ein Spaß war. Gleich gab er zu, dass ich ihn mit seinen eigenen Waffen geschlagen hatte. Gleich. Doch die Schritte hinter mir, die Hand, die mir mit einem schnellen Griff das Geld aus der Tasche zog, die kamen nicht.

Also zwängte ich mich durch die Tür ins Schulgebäude und entschloss ich mich, ihn ein wenig zappeln zu lassen. Ich würde ihm ja sein Geld zurückgeben. Doch nicht gleich. Ich fühlte die Scheine in meiner Tasche, Geld, so viel Geld, dass es mir zwischen den Fingern brannte. Viel zu viel, um es mit sich herumzutragen, als sei es nicht mehr als ein kleines Taschengeld. Ob es das für Dorian war? Bloß Taschengeld?

Es klingelte. Im Unterricht knisterten die Scheine leise, als ich mich zu meiner Umhängetasche hinunterbeugte und mein Schreibzeug herausnahm. Dorians Scheine. Das, was er für meinen Preis hielt. Es juckte mich, einfach aufzustehen, aus dem Klassenraum zu gehen, sie ihm vor die Füße zu werfen und dieses dämliche Spiel zu beenden. Dann wäre ich die Scheine los gewesen, wäre das Knistern los gewesen, die Verantwortung los gewesen für das Geld, das ich ihm auf keinen Fall ersetzten könnte, wenn ich es verlieren würde.

Und vielleicht wäre ich dann auch die Stimme aus meinem Kopf losgeworden, die mir dauernd sagte: Wenn du sein Angebot annimmst, wenn du das Wochenende mit Dorian verbringst, dann musst du Finn nicht begegnen.

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